Lesepredigt zur Christvesper

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# Evangelisation

Lesepredigt zur Christvesper

Liebe Leserinnen und Leser,

auf der Suche nach einem Buch im Regal bleibt mein Blick an einem Titel hängen: „Zwischen Tradition und neuem Anfang“. Ich habe es vor Jahren gelesen. Es handelt von Geschehnissen im 18. Jahrhundert. Jetzt spricht mich der Titel aber aus einem ganz anderen Grund an, denn es wird Weihnachten 2021. Ein Fest zwischen Tradition und neuem Anfang. So jedenfalls empfinde ich diese Tage in verschiedener Hinsicht. Auf politischer Bühne kam kürzlich die neue Bundesregierung ins Amt. Sie will den Aufbruch, aber an der Spitze steht ein Kanzler, der wohl auch wegen seiner Raute gewählt wurde – also im Zeichen des gewohnt unaufgeregten Regierungsstils der vergangenen sechszehn Jahre. Stichworte wie Strukturwandel prägen die Debatten. Sie wollen Mut fürs Neue vermitteln, aber gleichzeitig schwingt die Sorge ums Alte mit. Zwischen Tradition und neuem Anfang steht auch unser momentanes gesellschaftliches Gefüge. Die demokratischen Grundfesten sind ein Geschenk und trotzdem werden sie uns wegbrechen, wenn wir nicht neu anfangen, füreinander zu denken und zu leben. Eigentümlich und irritierend, dass die Not uns derzeit mehr auseinandertreibt als zusammenschweißt.

Nun wird es in dieser Zeit Weihnachten und das Fest gerät selbst in die Herausforderungen zwischen Tradition und neuen Anfang. Familien spüren es. Auch alle, die am Heiligen Abend traditionell Gottesdienste besuchen. Christvespern, vielleicht sogar mit Krippenspiel, sind in diesem Jahr wieder eine Rarität. Und wenn, dann finden sie meist vor den Kirchen statt, nicht drinnen. Gleichzeitig bricht Neues auf, unsere Kirchenkreis-Aktion „Weihnachten to go“ zum Beispiel. Texte und Lieder zum Fest, gepresst auf eine CD, nachzulesen in einem Heft und abrufbar über einen QR-Code, sind etliche tausend Mal in unserer Region verteilt worden. Sie bringen die biblische Weihnachtsbotschaft in die Häuser. Wäre jemand ohne Not auf diese Idee gekommen? Kaum. Doch so gut das Neue erscheint: Die Sehnsucht nach dem alten Leben ist groß. Der Platz zwischen der Tradition und dem neuen Anfang verunsichert. 

So wird es nun Weihnachten 2021 und die Geschichte von Jesu Geburt in Bethlehem mischt sich unter allen Umständen in unsere Zeitgeschichte ein. Das ist Tradition! Oder doch ein neuer Anfang?

Für die biblischen Berichte vom Kind, mit dem Gott zu seiner Welt kommt, sind das schon zu ihrer Entstehungszeit keine Alternativen. So beginnt die Geschichte Jesu an dem Ort, an dem auch der bedeutendste König in der Geschichte Israels geboren wurde, im Städtchen Bethlehem. Auch der Ehrentitel „Christus“ (der griechische Begriff für das hebräische Wort „Messias“, zu Deutsch „Gesalbter“) knüpft an die Würde des gesalbten Königs David an. Leider gab es immer wieder Zeiten, in denen die christlichen Kirchen vergessen oder, besser gesagt, verdrängt haben, dass Jesus Christus Jude war. Dabei ist es gar nicht zu überhören, wenn der Verkündigungsengel auf dem Feld den Hirten zuruft: „Keine Furcht! Große Freude! Euch ist heute der Retter geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Von dieser Verbindung des Lebens und Wirkens Jesu mit der Geschichte seines Volkes können wir als Christen nicht schweigen. Sie ist ein wesentlicher Teil unserer Geschichte. Das sollten besonders alle hören und wahrnehmen, die sich in antisemitischen oder antijudaistischen Ressentiments ergehen.

Einen neuen Anfang bedeutet die Geburt Jesu also nicht durch einen Bruch mit der jüdischen Geschichte, sondern durch die unkonventionelle Art und Weise der Anknüpfung daran. Es beginnt mit den bescheidenen Umständen der Entbindung und den Hirten als ersten Gästen und Zeugen des Geschehens. Das ist ein ungewöhnlicher Anfang für einen König und bezeichnend für den weiteren Weg. Jesus sitzt Zeit seines Lebens auf keinem Thron. Er sagt, dass er nicht gekommen sei, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen. Die einzige Krone, von der wir hören, besteht aus Dornen und sie wird ihm als Zeichen der Verspottung vor seiner Kreuzigung aufgesetzt. Bei dieser Beschreibung scheint es viel Fantasie zu brauchen, um in Jesus den Christus zu sehen. Andererseits stand genau dies offenbar für viele Menschen außer Frage, die ihm begegnet sind. Seine Ausstrahlung, sein Reden und sein Wirken wurden als Ausdruck dessen wahrgenommen, was der Engelchor auf den Feldern von Bethlehem sang: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Diese Wirkung Jesu blieb allen Irrungen und Wirrungen der weiteren Geschichte zum Trotz spürbar, denn sie gibt den Maßstab für einen liebevoll, zugewandten Umgang miteinander und lässt die Sehnsucht nach einem friedvollen Leben fassbar werden. Bis heute. Schade nur, dass uns viele Dinge von dieser Tiefe des weihnachtlichen Empfindens ablenken können, auch vertrauten Traditionen.  

Seit zwei Jahren steht nun manches von dem infrage, die wir vorher als ganz selbstverständlich empfunden haben (#Weihnachtsmärkte, #Krippenspiele). Darum mischt sich die Geschichte von der Geburt Jesu in Bethlehem anders in unsere Zeit- und Lebensgeschichte ein als üblich. Die Chance dafür, dass Traditionen einen neuen Anfang finden.

Martin Luther hatte einst eine wunderbare Idee: Kleine Geschenke zum Fest, meinte er, lassen uns begreiflicher werden, welches Geschenk Gott seiner Welt mit der Geburt Jesu Christi macht. Diese Idee hat über die Jahrhunderte eine ziemliche Eigendynamik bekommen. Luthers Gedanke verbindet sich in unseren Tagen aber wieder mit einer besonderen kleinen - großen Gabe, dem Impfstoff. An manchen Kirchen hängen Plakate mit der Aufschrift „Impfen ist Nächstenliebe“ und an einigen Orten werden die Gotteshäuser selbst zu Impfzentren. Im benachbarten Kirchenkreis Halberstadt hat der Kreiskirchenrat angesichts von Corona-Spaziergängen eine Erklärung verabschiedet, in der es heißt: „Als Christen tragen wir Verantwortung auch für unsere Gesellschaft. Wir sehen im Impfen zwar eine persönliche Entscheidung, aber es ist keine private. Unser Gemeinwesen braucht den höchstmöglichen Schutz aller. Wer sich impfen lässt, übernimmt Verantwortung für sich, für seine Familie, für unsere Gesellschaft.“ Sehr kluge Sätze, finde ich. Sicher: Sich impfen zu lassen als Geschenk für die Familie, für die Kinder und die Eltern, für die Nachbarn und die Freunde, das klingt ungewöhnlich. Aber können wir wirklich feiern, dass Gott sich seinen Menschen schenkt, und gleichzeitig ist es uns egal, wie es unseren Nächsten geht?

Auch ein zweites kleines Geschenk wird der Idee Martin Luthers für meine Begriffe gerecht. Es knüpft ebenfalls an die biblische Geschichte von Jesu Geburt an. Was meine ich? Obwohl die Umstände der Entbindung ungewöhnlich - sagen wir ruhig: unglücklich und schwierig – sind, verbreitet der Text eine unbändige Freude. Die Engel singen. Maria ist tief bewegt. Und die Hirten „priesen und lobten Gott, für alles, was sie gehört und gesehen hatten.“ Es sind fröhliche Nachrichten, die wir aus dem Umfeld der Krippe hören. Weihnachten 2021 treffen sie auf eine Welt, die sich fast schon an schlechte Botschaften gewöhnt hat. Und es ist unmöglich, die schwierigen Lebensbedingungen unserer Tage schönzureden. Aber das Weihnachtsgeschehen von Bethlehem ermuntert uns, neben den großen Umständen den Blick auf das Kleine zu wenden. Es sind hier nicht die politischen und wissenschaftliche Botschaften, die Engel, Eltern und Hirten erfreuen. Es ist das Kind in der Krippe. Gott begegnet uns hier klein und unscheinbar, aber die Freude könnte größer nicht sein. Ein Geschenk, auch für andere!    

So mag es Weihnachten 2021 werden, liebe Leserinnen und Leser, ein Fest zwischen Tradition und neuem Anfang. Ich wünsche Ihnen unter allen Umständen gesegnete, frohe und friedvolle Tage. Fürchtet Euch nicht!

Superintendent Matthias Porzelle
Kirchenkreis Egeln

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